Turiner Militärgerichtsprozesse
Unter den seit über fünfzig Jahren im sogenannten „Schrank der Schande“ in der Militärstaatsanwaltschaft in Rom versteckten Akten (dies war ein geschlossener Schrank, in dem Untersuchungsakten über Kriegsverbrechen in Italien während des Zeitraums von 1943 bis 1945 aufbewahrt wurden, die nie vor Gericht gebracht wurden) betreffen 119 davon die nationalsozialistischen und faschistischen Kriegsverbrechen, die in die territoriale Zuständigkeit des Militärgerichts Turin fielen und während der zwanzig Monate der deutschen Besatzung Norditaliens an der Zivilbevölkerung von Piemont, Aostatal, Lombardei und Ligurien begangen wurden.
Diese Akten wurden während des Dreijahreszeitraums 1994-1996 an die Militärstaatsanwaltschaft in Turin übermittelt, aber nur ein kleiner Teil führte zur Verurteilung der Verantwortlichen. Zu den in den 1990er und 2000er Jahren in Turin durchgeführten Prozessen gehörten z.B. diejenigen wegen der Massaker von Benedicta und Turchino (Siegfried Engel, 1999 zu lebenslanger Haft verurteilt), und von Piazzale Loreto in Mailand (Theodor Saevecke, 1999 zu lebenslanger Haft verurteilt), sowie diejenige über Morde und Folterungen in der Gegend von Albenga (Gerhard Dosse, 2006 zu lebenslanger Haft verurteilt). Viele weitere Morde blieben aufgrund des Todes des Verdächtigen oder aufgrund der langen vergangenen Zeit ungelöst und die Wiederaufnahme der Ermittlungen ist unmöglich: in der Tat sind die Verdächtigen verstorben ist oder können die Ermittlungen – angesichts der langen Zeit, die verstrichen ist – nicht wieder aufgenommen werden.
Die Verbrechen wurden nicht nur von Deutschen begangen: Mitglieder der militärischen Verbände der Italienischen Sozialrepublik (insbesondere G.N.R und Schwarze Brigaden), die sich des so genannten militärischen Kollaborationismus schuldig gemacht haben, nahmen aktiv an der von den deutschen Besatzern gewollten Strategie des Terrors teil, wie zahlreiche Gerichtsakten über die Verantwortung von Italienern zeigen.
Zusätzlich zu den Akten, die in den Jahren 1994-1996 nach Turin geschickt wurden, wurden im so genannten „Schrank der Schande“ weitere 144 Akten über Kriegsverbrechen gefunden, die in die Zuständigkeit des Militärgerichts Turin fielen (eine Akte wurde nur 1946 nach Turin geschickt, die anderen 143 im Jahr 1965), sowie 98 Akten über Kollaborationsverbrechen (2002 nach Turin geschickt) und schließlich 94 Anzeigen wegen Verbrechen (hauptsächlich Morde), die an Partisanen in den Tälern von Turin und Cuneo, an Carabinieri der Territoriallegion Turin und an Angestellten der Staatseisenbahnen in der Provinz Turin sowie an anderen Zivilisten in den Provinzen Pavia und Genua begangen wurden. Diese Anzeigen, die von der Militärstaatsanwaltschaft als „verschiedene Korrespondenz“ bezeichnet werden, wurden zwischen 1994 und 1996 nach Turin geschickt.
Im Anschluss an zwei wichtige Übertragungen von Prozessunterlagen in digitalem Format – die erste vom Historischen Archiv der Abgeordnetenkammer und die zweite vom Militärgericht Verona (das seit 2008 das Militärgericht Turin absorbiert hat) – wurde die vorliegende Untersuchung im Rahmen des ISTORETO-Projekts „Außerordentliche und militärische Justiz“ unter der Leitung von Rechtsanwältin Maria Di Massa initiiert. Die Untersuchung der Kriegsverbrecherprozesse umfasst die analytische Aufarbeitung einzelner Akten/Prozesse, um die tragischen Ereignise hunderter Zivilisten und Partisanen in Nordwesten Italiens zu rekonstruieren und die Grenzen und Widersprüche der Justizpolitik der Nachkriegszeit zu erforschen, die zur weitgehenden Straffreiheit deutscher und italienischer Kriegsverbrecher führten.
Die Verfahrensakten der Staatsanwaltschaft und des Militärgerichts Turin sind zur Einsicht auf ARCHOS und in der Datenbank der italienischen Militärjustiz verfügbar.
Die Prozessakten können bei ISTORETO eingesehen werden.